Ab 14. März 2022 bei Goldmann erhältlich.
1. Was möchten Sie mit dem Buch „Happy Family“ erreichen?
Ich kenne viele Familien, die in der Stressfalle sitzen und nicht wissen, warum. Das Buch bietet die Möglichkeit, die eigene Situation zu reflektieren und all das abzustellen, was nur Zeit frisst und uns unglücklich macht. Warum tun wir, was wir tun? Warum suchen wir ständig nach Ablenkung, warum posten wir Fotos unserer Kinder, warum rennen wir schon mit Babys zum Musikgarten? Die meisten Familien leben zu sehr im Außen und setzen sich dadurch unter Druck. Wir sollten ehrlich mit uns sein. Basteln wir am Kindergeburtstag mit den kleinen Gästen ein Steckenpferd, weil uns das Spaß macht oder weil wir die anderen Eltern mit unserer Kreativität und Planungskompetenz beeindrucken wollen?
2. Wer sollte Ihr Buch lesen?
In erster Linie könnten die Mütter profitieren. Denn sie sind es, die die Hauptlast der Familienarbeit tragen und sich in erster Linie um Erziehung, Alltagsgestaltung und Freizeitplanung kümmern. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch Väter, Großeltern, Frauenärzte, Erzieher und Lehrer beim Lesen einige Aha-Momente haben. Jeder, der Familie hat oder mit Familien arbeitet, wird sich zumindest in Teilen wiedererkennen.
3. Wie wirkt sich die digitale Dauerbeschallung auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus?
Aus meiner Sicht beobachten wir eine zunehmende Verkürzung der Aufmerksamkeitsspannen. Das ist ein großes Problem. Komplexe Probleme kann man nicht in Zehn-Minuten-Lernen-Muss-Immer-Spaß-Machen-Einheiten bearbeiten. Es fällt Kindern und Jugendlichen immer schwerer, sich länger zu konzentrieren, sich auch mal durchzubeißen, sich nicht ständig durch neue Impulse ablenken zu lassen. An meinen eigenen Kindern kann ich beobachten, dass etwa TikTok-Videos oft nur zwei Sekunden haben, um sie zu überzeugen. Wenn es dann nicht lustig ist, wird weitergewischt. Diese Generation kann sich gar nicht vorstellen, dass es sich lohnen könnte, einem Thema Zeit zu geben, sich zu entwickeln.
4. Die neuen Medien erscheinen zunehmend als alternativlos, wenn man im Zuge der Digitalisierung nicht abgehängt werden will. Was raten Sie?
Ich finde es interessant, dass es gerade die Vorreiter der Digitalisierung aus dem Silicon Valley sind, die ihre Kinder möglichst lange vom Smartphone fernhalten. Waldorf-Schulen werden dort immer beliebter. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass uns digitale Geräte eher daran hindern, unsere Synapsen vielfältig mit einander zu verschalten, sie begrenzen unsere Phantasie und unsere Innovationsfähigkeit – das ist das Wesen des binären Codes. Meiner Erfahrung nach brauchen kleine Kinder keine digitalen Geräte, auch in der Grundschule sind Laptops völlig überflüssig. Kinder lernen sehr intuitiv und sie sollten behutsam an die technischen Möglichkeiten herangeführt werden. Die Eltern haben hier eine wichtige Vorbild- und Anleitungsfunktion. Es ist nichts Verwerfliches, einen Zeichentrickfilm zu sehen oder kindgerechte YouTube-Videos abzuspielen, solange die Eltern die Zeit im Blick haben und auch gemeinsame Brettspiele auf dem Programm stehen. Aber Kleinkindern beim ersten Aufschrei schon das Smartphone in die Hand zu drücken, ist der falsche Weg. Das Gerede von der angeblichen Alternativlosigkeit sollte uns kalt lassen. Wenn Kinder von klein auf lernen, aus sich heraus Ideen zu entwickeln und sich für ihre Welt zu interessieren, werden sie kein Problem mit der Digitalisierung haben.
5. Sie sagen, heute würden sich Frauen bereitwillig gegenseitig angreifen: „Vollzeitmutter gegen Vollzeitmanagerin, Stillmutter gegen Flaschenmutter, Ein-Kind-Mutter gegen Drei-Kind-Mutter, Landmutter gegen Stadtmutter“. Woher kommt das?
Die versagte Anerkennung ist ein entscheidender Faktor. Darunter leiden eigentlich alle Mütter, aber anstatt die gesellschaftlichen Ursachen zu reflektieren, steigen sie in den Wettbewerb um das erfolgreichste Lebensmodell ein und bekriegen ihre Mitschwestern. Da hat uns der Kapitalismus einen schönen Bärendienst erwiesen. Dazu kommt der gesellschaftliche Diskurs, der sich an der Medienlogik orientiert und immer neue Konfliktlinien aufmacht. Dabei stehen hinter sämtlichen propagierten Frauenidealen Interessen. Das war zu jeder Zeit so, daran hat sich nichts geändert. Politiker, die Mütter aus der „Teilzeitfalle“ holen wollen, freuen sich in erster Linie über höhere Rentenbeitragszahlungen. Und die Ganztagsschule hat weniger mit Bildung als mit längerer Betreuung zu tun. Wir Frauen sollten uns nicht mehr instrumentalisieren lassen, sondern selbstbewusst unseren eigenen Weg gehen – ohne den der anderen zu diskreditieren.
6. Was läuft in Familien heutzutage besser als vor 30 oder 40 Jahren?
Ich spüre eine Offenheit, die es in vielen Familien vor 40 Jahren so noch nicht gegeben hat. Kinder werden in die Entscheidungen einbezogen, Mütter und Väter tauschen sich aus, planen Erwerbs- und Familienleben gemeinsam. Dadurch entsteht ein wertvoller Rückzugsraum, den wir gerade in der Corona-Zeit besonders zu schätzen gelernt haben. Was uns wirklich glücklich macht im Leben ist die Nähe zu Menschen, die wir lieben und die uns lieben. Deshalb sollten wir diesen Rückzugsort schützen, weniger im Außen leben, sondern miteinander. Die Medienrealität ist eine Konstruktion, das echte Leben braucht keine Inszenierungen und kein Event-Feuerwerk, sondern Freude am einfachen Zusammensein.
© Interview von Julia Meyn für den Goldmann Verlag
Bildrechte Cover: Goldmann